Sonntag, 31. März 2024

Kostet Selektion 30'000'000'000 (Milliarden) Franken?

Wahrscheinlich war das Consulting-Unternehmen OliverWyman selbst überrascht, über die Resonanz auf ihre Studie zum Thema «Fachkräftemangel» (jedenfalls vermittelte die freundliche Dame am Telefon diesen Eindruck). OliverWyman kam zum Schluss, dass 14'000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz ihr schulisches und berufliches Potenzial nicht ausschöpfen. Dies wiederum führe zu volkswirtschaftlichen Schäden von bis zu 30 Milliarden Franken pro Jahr!

Und weil OliverWymann zwei Mal die Selektion nach der 6. Primarschulklasse (8. Schuljahr inkl. Kindergarten) also am Ende des zweiten Zyklus ansprach, entstand in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien rasch der Eindruck, die 14'000 Kinder und die 30 Milliarden Franken seien eine Folge dieser Selektion.

Für Selektionsgegner und -gegnerinnen, wie bspw. die Geschäftsleitung des Schweizer Schulleitendenverbandes VSLCH bzw. ihre Exponenten Thomas Minder und Jörg Berger, ist spätestens damit klar, die Selektion nach der 6. Klasse muss weg. Die 30 Milliarden Franken stehen seither im Raum und werden implizit oder explizit regelmässig wiederholt. Beispielsweise in einem Blick-Artikel von Karen Schärer, vom 9.März 2024.

Was die OliverWyman Studie sagt

Menschen, die sich im Bereich der empirischen Sozialforschung und/oder der Volkswirtschaftslehre und/oder im Schweizer Bildungswesen auskennen, wundern sich:

  • Dieser Entscheid soll solche Auswirkungen, immerhin fast 4 Prozent des Schweizer Brutto-Inland-Produkt, haben?
  • Eine derart komplexe Thematik soll derart klar geschätzt werden können?
  • Wird eine allfällige Fehleinstufung nach der sechsten Klasse nicht durch Berufsmatura, Höhere Fachschulen, Eidgenössische Diplome und ähnlichen Weiterbildungen korrigiert?
  • Müsste man zu denjenigen, die zu tief eingeschätzt werden nicht noch jene in Abzug bringen, die zu hoch eingeschätzt werden?
  • Kann man sagen, dass der volkswirtschaftliche Nutzen eines Menschen umso höher ist, je höher sein Schulabschluss?

Ich machte mir die Mühe, die Studie von OliverWyman genauer anzuschauen. Dasselbe tat Felix Schmutz in einem Blogbeitrag auf Condorcet. Seine Erkenntnisse waren ähnlich.

Die Studie besteht aus 20 PowerPoint Folien abgespeichert als pdf-Datei. Einen detaillierten Lauftext gibt es gemäss Rückfrage bei OliverWyman nicht. Auf den Folien 13 und 19 sprechen die Autoren zwei Mal davon, dass die frühe Selektion ein Grund sein dürfte, dass Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. Die Art wie sie zu dieser Aussage kommen, ist allerdings seltsam. Die beliebten und in der Wirtschaft respektierten Weiterbildungen (bspw. Höhere Fachschule, eidgenössische Fachausweise oder Fachhochschulen) werden offenbar weitgehend ignoriert.

Auf Folie 19 präsentieren sie einen breiten Strauss an Massnahmen, mit denen man erreichen könnte, dass mehr Menschen ihr Potenzial ausnutzen. Die meisten sind unbestritten und werden von Bildungsfachleuten seit Jahren empfohlen.

Erfreuliche, wenn jetzt auch Wirtschaftsunternehmen diese Massnahmen ankerkennen und hoffentlich die notwendigen (finanziellen) Massnahmen mittragen.

Und was die Studie nicht sagt

Wer seither allerdings sagt, die Selektion nach dem zweiten Zyklus koste volkswirtschaftlich CHF 30 Milliarden, hat entweder die Studie nicht gelesen oder sie nicht verstanden oder er/sie lügt bewusst. Die OliverWyman jedenfalls schreibt dies in der Studie nicht!

OliverWyman schätzt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen auf 14'000 pro Jahr. Dies entspricht etwa 15 Prozent aller Kinder eines Jahrgangs, also ca. 3-4 pro Klasse. Dabei stützen sie sich auf Interviews mit Jugendlichen aber auch Fachleuten. OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Trotzdem: Nehmen wir einmal an, dass die Zahl von 14'000 Kindern und Jugendlichen korrekt ist. Zweifellos macht es Sinn, Massnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können. Wie gesagt, auf Folie 19 präsentiert OliverWyman eine breite und weitgehend sinnvolle Palette, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Die Selektion am Ende des zweiten Zyklus ist ein Nebenschauplatz.

Beträgt der volkswirtschaftliche Schaden CHF 30'000'000'000 pro Jahr?

Für Wirbel sorgen ja vor allem die CHF 30 Milliarden (genau genommen sind es 21-29 Milliarden). OliverWyman vertritt in der Studie die These, dass 14'000 Personen ihr Potenzial nicht ausschöpfen, was einen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu CHF 30 Milliarden pro Jahr verursache.

Das würde aber bedeutet, dass diese 14'000 Personen im Durchschnitt pro Kopf rund CHF 2,14 Millionen zusätzliche Wertschöpfung generieren würden.

Eine erstaunliche Aussage. Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150'000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1'500'000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Im Klartext: Mit den CHF 30'000'000'000 liegt OliverWyman zu hoch – und zwar massiv! Mit der Selektion nach dem zweiten Zyklus hat dieser volkswirtschaftliche Schaden schon gar nichts zu tun.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Empirie zu Selektion ist uneinheitlich

Wenn also seit ein paar Wochen in sozialen Medien und in der Tagespresse die «späte Selektion» gefordert und so getan wird, als ob die Empirie eindeutig gegen Selektion sei, so ist dies schlicht falsch.

Dazu zwei Beispiele:

  • Der aargauische Primarlehrpersonenverband antwortete auf meine Frage, was die grösste Schwierigkeit im Berufsalltag sei mit «riesige Heterogenität».
  • Auf meine Nachfrage bei mehreren Lehrpersonen der Sek I, welche in allen Leistungszügen unterrichten, erhielt ich übereinstimmend, die Antwort, dass sie die Kinder in homogenen Leistungszügen wohl eher besser fördern können.

Bei den Beispielen handelt es sich um Erfahrungswerte. Doch es gibt auch Empirie. Der erwähnte Felix Schmutz verweist in seinem erwähnten Beitrag auf Studien die, die These der angeblichen Überlegenheit der späten Selektion, widerlegen.

Es gibt Verbesserungspotenzial

Die Primarschule, die dreigliedrige Oberstufe und die Erwachsenenbildung haben übrigens tatsächlich Verbesserungspotenzial. Bspw.:

  • Die Durchlässigkeit sollte verbessert werden.
  • Die Betreuungsverhältnisse sind ungünstig bzw. die Klassen sind meist zu gross.
  • Die Schnittstellen zwischen den Zyklen und der Sek I und der Sek II müssen verbessert werden.
  • Im Bereich der Erwachsenenbildung braucht es ein «Recht auf Weiterbildung». Mit zeitlicher und finanzieller Unterstützung.
    Denn auch die Wirtschaft hat ein Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften, die sich stetig weiterbilden – und allfällige Fehlselektionen nachträglich korrigieren.

 

Dienstag, 4. Juli 2023

Hier erfährst du, wie du korrekt wählst

Du möchtest wählen gehen, weisst aber nicht genau, welche Möglichkeiten du hast? Kein Problem, hier erfährst du es.

Grossratswahlen Kanton Aargau: Diese Erklärung findest du im zweiten Teil.

1. Teil

Regierungsratswahlen, Gemeinderats- und Kommissionswahlen in Aargauer Gemeinden, Ständeratswahlen:

Öffne dein Wahlcouvert. Reisse dafür den Klebstreifen weg und schlitze das Couvert nicht mit einem Brieföffner auf. Das Couvert muss für die briefliche Stimmabgabe wieder verschliessbar bleiben.

Die Aargauer Gemeinderäte und Kommissionen, die Ständeräte und die Regierungsräte werden in einer sogenannten Majorzwahl gewählt. Es ist ganz einfach. Du darfst maximal so viele Leute wählen, wie Sitze zu vergeben sind.

Glossar: Majorzwahl (Mehrheitswahl): Hier wird gewählt, wer die meisten Stimmen erhält. Jedem Kandidierenden darf man höchstens eine Stimme geben. Kumulieren ist nicht erlaubt. Im ersten Wahlgang muss in der Regel das sogenannte absolute Mehr übertroffen werden. Wird dies von keinem Kandidierenden erreicht, gibt es einen zweiten Wahlgang. Im zweiten Wahlgang gilt nur noch das relative Mehr. Gewählt ist also, wer die meisten Stimmen erreicht.

Wenn du einen Namen auf den Wahlzettel geschrieben hast, musst du den Wahlzettel in das kleine Couvert stecken. Dann das kleine Couvert verschliessen und in das grosse Couvert stecken.
Wichtig: Den Stimmrechtsausweis unterschreiben! Und ebenfalls ins grosse Couvert stecken. Dann das grosse Couvert abgeben. Entweder frankiert per Post (Achtung: Die Post braucht ein paar Tage für die Zustellung) oder im Gemeindebriefkasten beim Gemeindehaus.

2. Teil

Nationalrat, Grossrat:

Diese Wahl ist etwas komplizierter. Öffne wiederum dein Wahlcouvert. Reisse dafür den Klebstreifen weg und schlitze das Couvert immer noch nicht mit einem Brieföffner auf. Das Couvert muss auch hier für die briefliche Stimmabgabe wieder verschliessbar bleiben.

Sie findet nach dem Proporzsystem statt. Im Kanton Aargau hast du für den Nationalrat 16 Stimmen, weil der Kanton Aargau 16 Sitze im Nationalrat hat. Du darfst auf deinen Wahlzettel also maximal 16 Namen schreiben. Zugelassen sind nur offizielle Kandidierende. Auf jedem Wahlzettel muss mindestens ein Name stehen. Namen von Personen, die nicht kandidieren, machen den Wahlzettel ungültig.

Erklärung zu den Aargauer Grossratswahlen

Bei den Grossratswahlen kommt es auf den Wahlkreis an. Der Wahlbezirk Zofingen beispielsweise hat 15 Sitze.
Wichtig: Im Aargauer Wahlrecht werden zuerst die Stimmen im ganzen Kanton zusammengezählt und dann die Sitze auf die Parteien verteilt. Erst in einer zweiten Runde wird geschaut, in welchem Wahlkreis, eine Partei wie viele Sitze erhält. Dieses Verfahren nennt man "Doppelter Pukelsheim"

Glossar:

Doppelter Pukelsheim: Benannt nach dem deutschen Mathematik-Professor Friedrich Pukelsheim. Damit der Wählerwillen möglichst präzise abgebildet wird, werden zuerst die Stimmen im gesamten Kanton Aargau zusammengezählt. Anschliessend werden die Sitze proportional auf die Parteien verteilt. Schliesslich schaut man, in welchen Wahlkreisen eine Partei ihre zugesprochenen Sitze erhält.
Weil der Aargau 140 Sitze im Grossen Rat hat, kann man schon mit weniger als einem Prozent der Stimmen einen Sitz erreichen. Um zu verhindern, dass plötzlich dutzende Kleinstparteien im Grossern Rat vertreten sind und der Ratsbetrieb gelähmt wird, muss eine Partei im ganzen Kanton entweder 3 Prozent der Stimmen erreichen oder in einem Wahlkreis mindestens 5 Prozent.
Die Mitte hat diesbezüglich keine Probleme.

Es ist also wichtig, dass im ganzen Kanton möglichst viele Stimmen für die Die Mitte ( Liste 4) abgegeben werden.

Proporzwahl (Verhältniswahl): Hier werden die Sitze im Verhältnis zu den abgegebenen Stimmen verteilt. Erhält eine Partei 10 % der Stimmen, erhält diese Partei 10 % der Sitze. Erhält eine Partei 20 % der Stimmen, erhält sie 20 % der Sitze.

Du kannst also eine Liste nehmen und unverändert einwerfen. Du kannst aber auch einzelne Personen auf der Liste doppelt eintragen.

Achtung: Du musst aufpassen, dass du nicht plötzlich mehr als 15 Namen (im Bezirk Zofingen) auf der Liste hast. Dies macht den Wahlzettel ungültig! Wenn du mehr als 15 Namen auf dem Wahlzettel hast, musst du so lange Personen streichen, bis die Höchstzahl von 15 wieder erreicht ist.

Du darfst auch eine Person zweimal auf die Liste schreiben. Es wäre schön, wenn du micht zwei Mal auf deine Liste -  am besten die Liste 4 - schreibst! Wichtig ist, dass du auch die Kandidatennummer aufschreibst. Das nennt man kumulieren. Dadurch erhöht sich die Chance, dass diese Person gewählt wird. Wenn du jemanden nicht willst, darfst du diese Person auch streichen. Es muss aber mindestens ein gültiger Name auf der Liste stehen.

Glossar:

Kumulieren: Beim Kumulieren schreibst du einen Namen zweimal auf eine Liste. Dadurch erhält dieser Kandidat eine zusätzliche Personenstimme, was seine Wahlchancen erhöht. Die Partei verliert keine Stimmen, da nur innerhalb der Liste eine Verschiebung stattfindet.

Streichen: Wenn du zwar eine Partei wählen möchtest aber eine bestimmte Person auf dieser Liste nicht wählen willst, kannst du sie streichen. Dadurch erhält diese Person keine persönliche Stimme und ihre Wahlchancen sinken. Die Partei selbst verliert keine Parteistimme.

Du darfst auch eine Person von einer anderen Liste auf den Wahlzettel schreiben. Wiederum maximal zweimal. Auch hier musst du darauf achten, dass du nicht mehr als 15 Namen hast. Wiederum musst du die eindeutige Kandidatennummer zum Namen dazu schreiben. Dies nennt man panaschieren.
Das kannst du machen, wenn du nicht die Partei einer bestimmten Person wählen willst, sondern die Person selbst.

Glossar:

Panaschieren: Beim Panaschieren wird der Name einer Person, die auf einer anderen als der bevorzugten Liste kandidiert, auf die bevorzugte Liste geschrieben. Man darf auch panaschierte Personen kumulieren.
Die panaschierte Person erhält eine oder zwei persönliche Stimme(n). Ihre Wahlchancen steigen. Auch die Partei der panaschierten Person erhält eine oder zwei zusätzliche Parteistimme(n), wodurch sich ihre Chancen auf zusätzliche Sitze erhöhen.

Die Partei, auf die eine Person panaschiert wurde, verliert eine oder zwei Parteistimme(n).

Du kannst auch den leeren Wahlzettel nehmen und einfach maximal 15 Namen auf den Zettel schreiben. Wiederum kannst du einzelne Personen doppelt aufführen. Du darfst auch in der Kopfzeile des leeren Wahlzettels den Namen einer Partei einfügen. Diese Partei erhält dann die leeren Zeilen als Parteistimmen, wenn du weniger als 15 Personen aufführst.

Wenn du gewählt hast, steckst du den Zettel in das kleine Couvert, verschliesst es und steckst es in das grosse Couvert (die Wahlpropaganda kannst du wegwerfen).

Wichtig: Stimmrechtsausweis unterschreiben! Dann den Stimmrechtsausweis ebenfalls ins grosse Couvert stecken und verschliessen. Dann den Brief frankieren und der Post übergeben (Achtung: Die Post braucht eine Weile bis zur Zustellung) oder den Brief direkt in den Gemeindebriefkasten beim Gemeindehaus einwerfen.



Freitag, 1. Januar 2021

Mini SOL-Projekt zur Organisationslehre

Selbstorganisiertes Erarbeiten von Fach- bzw. Orientierungswissen ist eine gute Alternative zu "traditionellem" Unterricht. Und weil sich das Thema Organisation gut eignet, entschied ich mich wieder einmal, ein kleines SOL-Projekt zu machen. Diesmal wirklich ein Mini-Projekt.

Denn wenige Lektionen, viel Stoff, klare Prüfungsvorgaben, eine eidgenössische Schlussprüfung, müssen beachtet werden. Es gibt wenig Spielraum in einer KV E-Profil Klasse, SOL-Projekte durchzuführen. Umso mehr, als die üblichen Konzepte gut funktionieren, die Erfolgsquoten in den QV Prüfungen sind hoch, die Abweichung der Erfahrungsnoten zu den Prüfungsnoten klein, zwei Kriterien, die von den Verantwortlichen stark gewichtet werden.

Deshalb war es das Ziel, für das Projekt nicht mehr Lektionen als bei einer herkömmlichen Erarbeitung einzusetzen. Das Thema Organisation verstehen die Lernenden meist rasch und gut, weshalb es für eine Klasse im ersten Semester geeignet ist.

SOL Ziele werden erreicht

Die Lernenden erhielten schriftlich den Auftrag das Kapitel in Gruppen zu lesen, Übungen zu lösen und Definitionen von Begriffen in ein Padlet zu schreiben. Dieses Padlet diente der Kontrolle, ob die Lernenden die Thematik, insbesondere das Fachvokabular richtig verstanden hatten. Es schrieben alle in dasselbe Padlet, so dass die Gruppen die Antworten der andern mit ihren eigenen Antworten vergleichen konnten. Ferner erhielten die Lernenden die Musterlösungen zu den Übungen.

Es ging also primär darum Fachwissen aufzubauen. Dies ist einerseits dem Lehrplan geschuldet, anderseits ist dies selbst sinnvoll. Ohne grundlegendes Orientierungswissen sind, kreatives, selbständiges Arbeiten und kritisches (Weiter-)denken illusorisch. Weiter sind viele Dinge in der Welt eindeutig. Es geht also richtigerweise nicht nur um den Prozess, sondern auch um das Resultat. Sätze wie, "kein Wissen auf Vorrat" oder "weg vom Stoff" sind Unsinn, wie hier oder hier aufgezeigt. 

Es war interessant, wie unterschiedlich die Gruppen vorgingen. Einige Lernenden machten intuitiv bereits vieles richtig und organisierten sich gut. Sie kamen auch schnell vorwärts. Andere Lernenden waren anfänglich etwas verloren und benötigten mehr Unterstützung. Es darf angenommen werden, dass auch diese Lernenden mit mehr Routine schneller und produktiver werden, sich ihre Selbstkompetenz also verbessert. Damit wird ein zentrales Ziel von SOL tatsächlich erreicht.

Ein weiteres Ziel von SOL, welches durchaus erreicht werden kann, ist das Selbstvertrauen und das logische Denken der Lernenden. Gerade die schwächeren Lernenden misstrauen oft ihrem eigenen logischen Denken. Sie machen sinnvolle Überlegungen und warten dann auf Bestätigung durch die Lehrperson. Bereits in diesem kleinen Projekt, konnte beobachtet werden, wie die Lernenden anfingen sich in die Thematik einzuarbeiten, und bei Unsicherheiten erst die Gruppenkolleginnen und -kollegen zu fragen.

SOL ist gerade auch für schwächere Lernende geeignet

Diese weiteren Kompetenzen über SOL zu üben, ist insbesondere für schwächere Lernende sinnvoll. Die eher stärkeren Lernenden machen vieles in Bezug auf Selbstorganisation, Zeiteinteilung und Arbeitsplanung intuitiv bereits richtig. Evtl. hatten sie an früheren Schulen solche Projekte und es gelingt ihnen auf diese Erfahrungen zurückzugreifen.

Die Gruppen mussten in der Schule, aber nicht im Zimmer arbeiten. Ich bin jeweils von einer Gruppe zur nächsten gelaufen und habe individuelle Fragen beantwortet. Dabei sind vertiefte Fachgespräche entstanden. Obwohl ich bei solchen Lernsettings immer anbiete, dass die Lernenden Fragen über bspw. E-Mail stellen dürfen, gab es wenige solche Anfragen. Auch in das gemeinsame Zumpad, welches ich mit der Klasse führe, wird eher selten von den Lernenden geschrieben. Es kommt aber vor.

Da ich die Aufträge zu Beginn schriftlich für das gesamte Projekt abgab, gab es keine expliziten Hausaufgaben. Die Lernenden machten im Rahmen des SOL-Projektes zuhause wenig. Dies dürfte sich ändern, wenn die Lernenden mit solchen Projekten mehr Erfahrung haben. Immerhin, meinen Hinweis, dass die Gruppen doch noch auf das nächste Mal das Padlet ausfüllen sollten, wurde gut umgesetzt.

Schliesslich erreichte ich das "Zeitziel" doch nicht ganz. Weil wir teilweise auch Quarantäneabwesenheiten hatten und wir noch Prüfungen durchführen mussten, mussten wir die letzte Sequenz wieder traditionell durchführen. Denkbar ist, dass man Jahrespromotionen einführt, womit weniger Prüfungen in einem Semester nötig sind, oder dass solche Projekte als separaten Leistungsnachweis gewertet werden. Sie ersetzen herkömmliche Einzelprüfungen auch nicht, sind aber eine sinnvolle Ergänzung.

Mein Erfahrungsbericht zu einem früheren SOL-Projekt.


Samstag, 19. Dezember 2020

Meine Einschätzung zur laufenden KV Reform 2022

Als stellvertretender Geschäftsführer des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes und Lehrer am Zentrum Bildung KV Aargau Ost in Baden, erhielt ich Gelegenheit im KV Magazin "TOP News" 3/2020 S. 13/14 unter der Rubrik "Meinungen" meine Einschätzung zur laufenden KV Reform 2022, welche unter dem Motto "Fit für die Zukunft" läuft, zu veröffentlichen.

Massive Änderungen für die Lehrpersonen

„Fit für die Zukunft!“ dies das Ziel der „KV Reform 2022“. Eine Reform ist aufgrund des Strukturwandels, insbesondere der Digitalisierung, unbestritten. Eine genaue Betrachtung des Bildungsplanentwurfs ist aber irritierend: Da ist beispielsweise explizit von einer Landessprache die Rede, im Aargau also Deutsch. Ein Fach, welches es gemäss Bildungsplan gar nicht mehr geben wird. Weiter ist explizit von grundlegendem Wissen die Rede. Was damit gemeint ist, zeigt wiederum der Bildungsplan. Rechnungswesen wird nur noch rudimentär angeschaut. Fächer gibt es keine mehr, stattdessen gibt es fünf Kompetenzbereiche.Bedeutsam wird der Bereich Kommunikation. Da sind Verkaufsgespräche zu trainieren, non-verbale Signale zu deuten und sogar Small-talk ist neu im Lehrplan drin. Kommuniziert wird dabei auf Deutsch und Englisch. Französisch ist nur noch als Wahlfach vorgesehen. 
 
Diese Reform dürfte somit massive Veränderungen für die Lehrpersonen und die Schulen bringen. Trotzdem ist ein Einbezug nur bescheiden vorgesehen. 
Dass seit dem 31. Juli 2020 Bildungsplanentwürfe vorliegen, erfuhren die Lehrpersonen eher zufällig. Es fand eine Anhörung der Branchenverbände, nicht aber der Schulen statt. Diese dürfen sich offenbar erst im kommenden Frühjahr im Rahmen einer Vernehmlassung des Staatsekretariats für Bildung Forschung und Innovation SBFI äussern. Die Mitsprache der Schulen beschränkte sich auf einige wenige Vertreter im Rahmen einiger weniger Kommissionen. 
 
Zwar ist es üblich, dass für eine solche Reform erst im Rahmen von Expertengremien diskutiert wird. Es befremdet aber, dass die Schulen als einer der drei Lernorte, nur geringe Mitsprache haben. Es scheint, dass die Schulen und Lehrpersonen möglichst vor vollendete Tatsachen gestellt werden sollen, die man dann bestenfalls noch leicht justieren kann. 
 
Immerhin sind jetzt ein paar Arbeitsgruppen eingesetzt worden. Nach ersten Sitzungen scheint es aber, dass diese nicht mehr allzu viel bewegen können.
  
Fachstudium noch notwendig? 
 
Bisher galt die Überzeugung, dass eine fachlich hochwertige Ausbildung, fachlich hochwertig ausgebildete Lehrpersonen braucht. Entsprechend unterrichten in der KV-Ausbildung, Personen mit einem fachbezogenen Hochschulstudium. Man scheint jetzt von dieser Überzeugung abzuweichen. 
Die Fächer Deutsch und Korrespondenz (bisher integriert in IKA) existieren nicht mehr. Stattdessen wird viel Wert auf Selbstkompetenz und Kommunikation gelegt. 
 
Es stellt sich die Frage, wer zukünftig diese Kompetenzbereiche unterrichtet? Handelslehrpersonen könnten mit Weiterbildungen fit gemacht werden, da sie den betriebswirtschaftlichen Hintergrund bereits haben. Aus sozialen Gründen, ist es aber denkbar, dass Schulen ihre nicht mehr gebrauchten Germanisten*innen und Romanist*innen zu Kommunikationslehrpersonen umfunktionieren. Teilweise gibt es tatsächlich Überschneidungen. Wie weit die Schulen bei der konkreten Umsetzung des Bildungsplans Freiheiten haben, ist offen.
 
Die wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Ausbildung wird massiv reduziert. Der Bildungsplan spricht beispielsweise von „…andern gängigen Verträgen…“, dann wird Arbeit, Miete, Leasing genannt. Im Zentrum steht neu der Lehrvertrag. Die Taxonomiestufe ist K2, also erklären und begründen. Die Aktiengesellschaft wird hingegen kein einziges Mal erwähnt.  
 
Geht die fachwissenschaftliche Ausbildung nicht mehr über das Niveau einer gewerblichen ABU-Ausbildung hinaus, wird einerseits das Unterrichten für studierte Handelslehrpersonen unattraktiv, anderseits gibt es für Schulleitungen keinen Grund mehr teure Fachleute einzustellen, wenn günstigere ABU-Lehrkräfte ebenfalls reichen. Beides führt eindeutig zu einer Abwertung der KV-Lehre. Die Folge wird sein, dass leistungsstarke Lernende entweder einen anderen Beruf beispielsweise Mediamatiker*innen ergreifen oder den gymnasialen Weg einschlagen. 
 
Mittelfristig dürfte die Berufsmatura ebenfalls abgewertet werden, weil nur so die Durchlässigkeit innerhalb der kaufmännischen Ausbildung gewährleistet ist. 
 
Die schulisch organisierte Grundbildung ist im Moment offenbar überhaupt nicht geregelt. Es scheint, dass sie mehr oder weniger vergessen ging. 
 
Fehlende Grundlagen schaden allen 
 
Eine solche Entwicklung ist auch nicht im Interesse der Lehrbetriebe. Für sie ist die angedachte Reform auf den ersten Blick attraktiv. So sollen Handlungskompetenzen aufgebaut und die KV-Lehre zu einer Art „on-the-job- Ausbildung“ umgebaut werden. Der Lehrbetrieb soll der wichtigste Lernort sein, was attraktiv tönt, von den Lehrbetrieben aber mehr abverlangt. Ob Betriebe dies leisten können und wollen, wird sich zeigen. 
 
Längerfristig werden es die Unternehmen negativ spüren, wenn den jungen Berufsleuten die theo- retischen Grundlagen fehlen. 
 
Diese Grundlagen sind umso wichtiger, als es im Erwachsenenbildungsbereich heute schon eine Vielzahl von spezifischen Weiterbildungen, gibt, die man basierend auf einer breiten kaufmännischen Allgemeinbildung, erfolgreich absolvieren kann. Es darf bezweifelt werden, dass die Qualität dieser Weiterbil- dungen gehalten werden kann, wenn Kursteilnehmende mit nur noch rudimentärem Fundament zu solchen Weiterbildungen antreten. 
 
Wenn zukünftig die Lernenden nur noch lernen, was in „ihrem“ Betrieb gebraucht wird, werden sie noch stärker als bisher auf eine Branche oder gar auf ein Unternehmen festgelegt. Aufgrund eines sich beschleunigten Strukturwandels ist aber genau das Gegenteil nötig: Lernende sollten möglichst breit ausgebildet werden. Bisher war dies der Fall. Der Strukturwandel wurde gut gemeistert, die Schweizer Erwerbsquote ist hoch, die Arbeitslosigkeit tief. 
 
Notwendigkeit einer Reform ist gegeben 
 
Dass Verkaufsgespräche, Prozess- und Projektmanagement neu prominent im Lehrplan vertreten sind, ist nachvollziehbar. Es stellt sich aber die Frage, ob solche Themen nicht, wie bisher, in den überfachlichen Kursen bessern aufgehoben sind. Lehrbetriebe sind sehr unterschiedlich, weshalb eine branchenspezifische Ausbildung im Bereich Prozessmanagement oder Verkauf sinnvoller erscheint.
 
Ein gestraffter Lehrplan ist vertretbar, wenn dadurch Lernformen, wie selbstorganisiertes Lernen oder Projektunterricht, gefördert werden. Tatsächlich orientiert sich der aktuelle Lehrplan stark an Detail- wissen, welches viele Lernende nur ungenügend in die Praxis übertragen können. Jahrespromotionen könnten ebenfalls mehr Spielraum für Projekte und Praxis- bezüge bringen. 
 
Eine Verlängerung der Lehre um ein Jahr ist politisch wohl chancenlos, würde den höheren Ansprüchen an Kaufleute aber gerecht werden.
  
Solche „alternativen“ Unterrichtsmethoden können Kompetenzen, die für Kaufleute zukünftig zentral sein dürften, tatsächlich fördern. Solcher Unterricht muss sich aber ebenfalls an klaren Zielen und dem Aufbau von einem für die kaufmännische Tätigkeit notwendigen Grundstock an Fachwissen bzw. Fachkompetenzen orientieren. Würde man so reformieren, bräuchte man weiterhin hochqualifizierte Lehrpersonen und würde die Ausbildung tatsächlich fit für die Zukunft.
 
Stattdessen sind sogar die Lernziele zur Digitalisierung bescheiden und beschränken sich im Wesentlichen auf Anwendungen. App-Programmierung beispielsweise ist kein Lernziel. 
 
Weiterbildung und Nachbesserung notwendig
 
Aus gewerkschaftlicher Sicht ist positiv zu werten, dass die Lektionenzahl konstant bleiben soll. Die Lehrpersonen müssen aber definitiv weitergebildet werden. Davon ist momentan nichts zu sehen. Die Idee die Reform bereits im August 2022 einzuführen, scheint abenteuerlich und dürfte der Qualität ebenfalls abträglich sein.
 
Der vorliegende Bildungsplanentwurf muss dringend nachgebessert werden. Sonst wird die Lehre sowohl für Lehrpersonen, wie für Lernende abgewertet. Das Ziel „fit für die Zukunft“ wird aktuell verfehlt.
 
 
 
Update: Offenbar wurde kürzlich entschieden, dass Französisch die erste Fremdsprache sein solle.