Sonntag, 24. Mai 2020

Sei kreativ! - Warum mich diese Forderung bis heute zum Lächeln bringt

"Das hört man manchmal, der Trainer ruft einem Spieler zu "sei kreativ!" Aber was ist damit gemeint? Jetzt wird der sich zehn Minuten überlegen, was gemeint sein könnte, statt Tore zu werfen." (Arno Ehret)

Es war in meinem ersten Weiterbildungskurs als Handballtrainer als der damalige Schweizer Nationaltrainer und Weltmeister von 1978, Arno Ehret (3 Tore im Final: BRD - UdSSR 20:19), dies erklärte. Und tatsächlich konnte ich in den folgenden Jahren immer wieder lächelnd hören, wie Trainer diese unbrauchbare Anweisung gaben. 

Kompetenzen wie Kreativität sind kein Selbstzweck

Kreativität ist eine sinnvolle Kompetenz, weshalb die Förderung ihrer Beherrschung auch im schulischen Umfeld oft gefordert wird.

Abgesehen davon, dass das Üben dieser Kompetenz, gleich wie bspw. Kommunikation in diversen Fächern, wie bspw. Sport, Musik oder auch Fremdsprachen der Normalfall ist,
Abgesehen davon, dass man diese Kompetenzen (aber auch Problemlösungstechniken oder Projekte) in Sportvereinen, Pfadilagern, Musik- und Theatervereinen "in echt" üben kann, was ist damit gemeint?

Kreativitäts- (oder auch Kommunikationstechniken) können nicht gemeint sein, denn dass wäre nun wirklich nichts Besonderes. Um diese zu erlernen, gibt es Lehrbücher. In Schulen und Kursen werden Sie gelehrt und gelernt. Bekannt ist bspw. die Siebensprung-Methode zur Problemlösung, in der Schweiz berühmt geworden als "the seven-thinking-steps".
Ferner ist es so, dass Vereine, in welchen Kreativität oder Kommunikation aber auch Kooperation und kritisches Denken eigentlich ideal geübt werden könnten, zunehmenden Mühe haben, Freiwillige zu finden. Ob die abnehmende Bereitschaft zu Ehrenamtlichkeit und Verbindlichkeit eine Folge von Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit ist, was gerade auch durch neuen Medien begünstigt wird, wäre zu untersuchen. 

Manchmal wird mit Kreativität implizit gemeint, dass die Lernenden nicht bloss ihr aufgebautes Wissen (im Rahmen von Prüfungen) nachweisen müssen, sondern im Rahmen eines Lernprodukts dieses Wissen kreativ demonstrieren sollen. Zu denken ist etwa an ein Lernvideo, ein Rollenspiel, eine Podiumsdiskussion, ein Plakat oder ein Lehrbuch (bspw. Book-Creator)

Gegen Lernprodukte als Ergänzung zu klassischen Einzelprüfungen ist nicht viel einzuwenden. Bloss, dies ist nichts Neues. Und es ist definitiv "nur" eine Ergänzung. Im Zentrum schulischer Lernziele bleiben Allgemeinbildung und Orientierungswissen. Denn kreative Lösungen zu einem Problem wird nur finden, wer über fundiertes Orientierungswissen in einem Fachbereich verfügt, wie hier ausgeführt. Kreativität als Selbstzweck ist für gewöhnlich sinnlos.

Kompetenzen ergänzen Wissen und bauen darauf auf

Forderungen, dass man Lernziele durch Kompetenzen, erworben anhand beliebiger (selbstgewählter) Sachverhalte, ersetzen sollte und konsequenterweise auch gleich noch alles abschafft, was nach Prüfung, Leistung und Bewertung aussieht, sind abzulehnen. Solche Forderungen führen auch nicht zu mehr Chancengleichheit. Solche Erwartungen sind entweder naiv oder nicht zu Ende gedacht, wie mehrfach bspw. hier oder hier dargelegt.

Weiter stellt sich die Frage, ob es pädagogisch richtig (und rechtlich zulässig) ist, bspw. bei kaufmännischen Berufslernenden in Leistungsnachweisen nicht primär das kaufmännische Fachwissen, sondern die kreative Umsetzung eines Lernproduktes zu bewerten? Es hat wahrscheinlich einen Grund, weshalb jemand eine Lehre als Kaufmann/-frau und nicht als Grafiker*in gewählt hat.

Vor einiger Zeit stellte ich im Rahmen eines SOL-Projekts unter Anderem die Aufgabe, gruppenweise ein Erklärvideo zu kreieren. Die Resultate waren fachlich gut. Die Kreativität hingegen hatte noch Potenzial.
Es waren dieselben Lernenden, die ich ein halbes Jahr vorher im Rahmen des Schulsporttags habe Fussball spielen sehen. Mit diversen kreativen Tricks und Kniffs dominierten sie die Spiele und gewannen das Turnier deutlich. Ihre Kreativität war das Ergebnis von Jahre langem Vereinstraining in einem spezifischen Bereich (Fussball) und nicht einfach transferierbar.

Die These, wie man sie in sozialen Medien implizit immer wieder liesst, dass man an einem beliebigen Thema Kreativität üben und diese dann beliebig auf andere Bereiche übertragen könne, ist zumindest gewagt.

Auch Lernprodukte können langweilig werden

Manchmal werden kreative Lernprodukte - möglichst selbst gewählt, idealerweise an einem beliebigen selbstgewählten Themen - als intrinsischer Motivator gesehen. Den Kindern und Jugendlichen soll die Freude am Lernen nicht abhanden kommen. Nun, beim ersten Mal ist ein Lernvideo vielleicht wirklich ein Motivator. Beim zweiten Mal, wenn man es besser kann, vielleicht sogar noch stärker. Aber was ist, wenn plötzlich in allen Fächern, alle vier Wochen ein Lernvideo, ein Blog oder ein Buch kreiert werden muss? Die Gefahr des "sich zu Tode laufen" ist gross.

Lernprodukte und Projekte, wie sie in Schulen seit Langem üblich sind, können Sinn machen. Insbesondere, wenn sie dazu dienen, Orientierungswissen aufzubauen oder anzuwenden und nicht  einfach auf Beliebigkeit basieren. Zu solchen sinnvollen Projekten gibt es in der Zwischenzeit diverse Sammlungen bspw. TeachOz. Digitale Hilfsmittel können weitere Möglichkeiten eröffnen.

Auch eine Mischung aus Fern- und Präsenzlernen kann bei älteren Lernenden durchaus eine Variante sein, wie hier ausgeführt. Im Zentrum bleibt aber zielgerichteter, allgemeinbildender Wissensaufbau.


Sonntag, 10. Mai 2020

Übrigens: Fernlernen geht auch frontal - Erfahrungen aus weiteren Wochen Fernunterricht

"Könnten wir einen Video-Call machen, bei welchem Sie die Theorie erklären und wir Fragen stellen können?" Diese Frage stellte mir eine Lernende schon vor den Ferien. Sie war mit diesem Wunsch nicht alleine. Zwar wurde immer wieder betont, dass die Lernvideos hilfreich seien, trotzdem gab es den Wunsch nach einem geführten Input.

Gut strukturierte und aufbereitete Inputs sind eine effiziente Form des Lernens, wenn es darum geht Orientierungswissen aufzubauen. Solches Wissen ist die Voraussetzung für kritisches Denken, oder das Finden kreativer Lösungen in komplexen Problemen.

Das Lernziel ist entscheidend für das Lernsetting

Gerade Lernende, die sich gut konzentrieren können, überraschenderweise häufig aber auch die anderen, mögen Lehrvorträge. Die Lernenden können dann nicht mehr arbeiten, wann sie wollen, sondern dann, wenn der Video-Call angesetzt ist. Asynchrones Lernen gilt als Hauptstärke von Fernunterricht und wird entsprechend propagiert, während Lehrervorträge - womöglich unter Einhaltung des Stundenplans - abgelehnt werden. Die Realität ist pragmatischer.

Entscheidend ist das Ziel, welches verfolgt wird. Dieses muss im Wesentlichen Allgemeinbildung bzw. Orientierungswissen sein, wobei dies durchaus in Form eines Lernproduktes, wie bspw. eines Lernvideos, eines Lernbuchs oder eines Gruppenarbeit sein kann  (mehr dazu hier oder hier). Teilweise wird argumentiert, dass Wissen unnötig sei, weil es im Internet stehe und das globale Wissen sich alle paar Stunden verdopple. Selbst wenn dies stimmen würde, wäre dies nichts Besonderes. Schon Sokrates wusste, dass er nichts weiss.
Das Internet ist eine gute Informationsquelle, wenn man schon viel weiss. Ähnlich wie ein Französisch-Wörterbuch nur hilft, wenn man die Sprache schon gut kann. Es spielt offensichtlich eine Rolle, ob ich sage "Sie haben ein schönes Sandwich im Wohnzimmer stehen" oder ob ich sagen, "Sie haben ein schönes Canapé im Wohnzimmer stehen". Präzises Faktenwissen ist weiterhin zentral. Halbwissen und thematische Beliebigkeit reichen in einer Welt des beschleunigten Strukturwandels nicht (mehr).

Und so hielt ich in den letzten drei Wochen mehrere frontale "Lektionen", ich sitze dann jeweils am Computer, teile den Bildschirm und schreibe ähnlich einer Wandtafel auf den Bildschirm. Wenn die Lernenden Fragen haben, können sie einfach das Mikrofon öffnen und los reden. Die Lernenden stellen meist wenige Fragen, erstellen dagegen häufig Screenshots oder machen Mitschnitte, welche sie immer wieder anschauen können. Die Teilnahme an diesen Inputs war grösstenteils freiwillig. Ich kann ohnehin nicht kontrollieren, ob jemand wirklich zuhört, oder sonst etwas macht.
Hingegen frage ich nach, wenn jemand bei einer obligatorischen Aufgabe oder einem obligatorischen Call abwesend war. Nicht als Kontrolle, sondern aus Interesse und um Kontakt halten zu können. Die Abwesenden sind typischerweise nicht diejenigen, bei denen alles bestens läuft.

Schule ermöglicht Lernen

Radikale Gegner frontaler Inputs dagegen glauben gar, mit solchen Settings würde die Schule die Kinder und Jugendlichen am Lernen hindern. Lernen wird von diesen Leuten als eine mehr oder weniger intensive Auseinandersetzung mit einem beliebigen Gegenstand verstanden. Die Lehrperson macht keine Vorgaben - dies wäre autoritär - sondern unterstützt einen nicht näher definierten Lernprozess. Dieses Denken gipfelt im Satz: "Mehr lernen, weniger Schule", welchen man in sozialen Medien immer wieder liest. In Anbetracht von Millionen von Kindern, die nicht zur Schule gehen und Lernen dürfen/können, ist dieser Satz peinlich und zynisch.

Es ist in einer Demokratie legitim zu fordern, dass die digitale Transformation der öffentlichen Schule mit thematischer Beliebigkeit, einhergehen soll. Aber man soll nicht so tun, als ob Digitalisierung nur dann "echt" sei, wenn sie mit thematischer Beliebigkeit kombiniert wird (mehr dazu hier oder hier).

Berufsmatura-Prüfungen abgesagt

Ansonsten ist die anfängliche Spannung des Fernunterrichts einer gewissen Routine gewichen. Die dominierende Frage der letzten Wochen war, ob die Berufsmatura-Prüfungen abgesagt werden und wie die Promotion laufen wird. Die schulischen Schlussprüfung der Fähigkeitszeugnisse wurden schon früher abgesagt.
Der Bund und der Kanton haben ferner beschlossen, dass alle Lernenden promoviert werden und dass man sich in diesem Semester nicht verschlechtern kann.

So müssen jetzt freiwillige Prüfungen unter Corona-Bedingungen organisiert werden. Und für Lernende, die ohne Schlussprüfung, nur mit Erfahrungsnoften nicht bestehen, muss eine Schlussprüfung organisiert werden.
Daneben ist es weiterhin eine Herausforderung den Kontakt zu den Lernenden zu halten (mehr dazu hier).

Modern formuliert: "Deren Lernen, (asynchron) zu begleiten."
Denn Lernbegleitung ist durchaus sinnvoll. Abhängig von den Lernzielen.