Samstag, 19. Dezember 2020

Meine Einschätzung zur laufenden KV Reform 2022

Als stellvertretender Geschäftsführer des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes und Lehrer am Zentrum Bildung KV Aargau Ost in Baden, erhielt ich Gelegenheit im KV Magazin "TOP News" 3/2020 S. 13/14 unter der Rubrik "Meinungen" meine Einschätzung zur laufenden KV Reform 2022, welche unter dem Motto "Fit für die Zukunft" läuft, zu veröffentlichen.

Massive Änderungen für die Lehrpersonen

„Fit für die Zukunft!“ dies das Ziel der „KV Reform 2022“. Eine Reform ist aufgrund des Strukturwandels, insbesondere der Digitalisierung, unbestritten. Eine genaue Betrachtung des Bildungsplanentwurfs ist aber irritierend: Da ist beispielsweise explizit von einer Landessprache die Rede, im Aargau also Deutsch. Ein Fach, welches es gemäss Bildungsplan gar nicht mehr geben wird. Weiter ist explizit von grundlegendem Wissen die Rede. Was damit gemeint ist, zeigt wiederum der Bildungsplan. Rechnungswesen wird nur noch rudimentär angeschaut. Fächer gibt es keine mehr, stattdessen gibt es fünf Kompetenzbereiche.Bedeutsam wird der Bereich Kommunikation. Da sind Verkaufsgespräche zu trainieren, non-verbale Signale zu deuten und sogar Small-talk ist neu im Lehrplan drin. Kommuniziert wird dabei auf Deutsch und Englisch. Französisch ist nur noch als Wahlfach vorgesehen. 
 
Diese Reform dürfte somit massive Veränderungen für die Lehrpersonen und die Schulen bringen. Trotzdem ist ein Einbezug nur bescheiden vorgesehen. 
Dass seit dem 31. Juli 2020 Bildungsplanentwürfe vorliegen, erfuhren die Lehrpersonen eher zufällig. Es fand eine Anhörung der Branchenverbände, nicht aber der Schulen statt. Diese dürfen sich offenbar erst im kommenden Frühjahr im Rahmen einer Vernehmlassung des Staatsekretariats für Bildung Forschung und Innovation SBFI äussern. Die Mitsprache der Schulen beschränkte sich auf einige wenige Vertreter im Rahmen einiger weniger Kommissionen. 
 
Zwar ist es üblich, dass für eine solche Reform erst im Rahmen von Expertengremien diskutiert wird. Es befremdet aber, dass die Schulen als einer der drei Lernorte, nur geringe Mitsprache haben. Es scheint, dass die Schulen und Lehrpersonen möglichst vor vollendete Tatsachen gestellt werden sollen, die man dann bestenfalls noch leicht justieren kann. 
 
Immerhin sind jetzt ein paar Arbeitsgruppen eingesetzt worden. Nach ersten Sitzungen scheint es aber, dass diese nicht mehr allzu viel bewegen können.
  
Fachstudium noch notwendig? 
 
Bisher galt die Überzeugung, dass eine fachlich hochwertige Ausbildung, fachlich hochwertig ausgebildete Lehrpersonen braucht. Entsprechend unterrichten in der KV-Ausbildung, Personen mit einem fachbezogenen Hochschulstudium. Man scheint jetzt von dieser Überzeugung abzuweichen. 
Die Fächer Deutsch und Korrespondenz (bisher integriert in IKA) existieren nicht mehr. Stattdessen wird viel Wert auf Selbstkompetenz und Kommunikation gelegt. 
 
Es stellt sich die Frage, wer zukünftig diese Kompetenzbereiche unterrichtet? Handelslehrpersonen könnten mit Weiterbildungen fit gemacht werden, da sie den betriebswirtschaftlichen Hintergrund bereits haben. Aus sozialen Gründen, ist es aber denkbar, dass Schulen ihre nicht mehr gebrauchten Germanisten*innen und Romanist*innen zu Kommunikationslehrpersonen umfunktionieren. Teilweise gibt es tatsächlich Überschneidungen. Wie weit die Schulen bei der konkreten Umsetzung des Bildungsplans Freiheiten haben, ist offen.
 
Die wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Ausbildung wird massiv reduziert. Der Bildungsplan spricht beispielsweise von „…andern gängigen Verträgen…“, dann wird Arbeit, Miete, Leasing genannt. Im Zentrum steht neu der Lehrvertrag. Die Taxonomiestufe ist K2, also erklären und begründen. Die Aktiengesellschaft wird hingegen kein einziges Mal erwähnt.  
 
Geht die fachwissenschaftliche Ausbildung nicht mehr über das Niveau einer gewerblichen ABU-Ausbildung hinaus, wird einerseits das Unterrichten für studierte Handelslehrpersonen unattraktiv, anderseits gibt es für Schulleitungen keinen Grund mehr teure Fachleute einzustellen, wenn günstigere ABU-Lehrkräfte ebenfalls reichen. Beides führt eindeutig zu einer Abwertung der KV-Lehre. Die Folge wird sein, dass leistungsstarke Lernende entweder einen anderen Beruf beispielsweise Mediamatiker*innen ergreifen oder den gymnasialen Weg einschlagen. 
 
Mittelfristig dürfte die Berufsmatura ebenfalls abgewertet werden, weil nur so die Durchlässigkeit innerhalb der kaufmännischen Ausbildung gewährleistet ist. 
 
Die schulisch organisierte Grundbildung ist im Moment offenbar überhaupt nicht geregelt. Es scheint, dass sie mehr oder weniger vergessen ging. 
 
Fehlende Grundlagen schaden allen 
 
Eine solche Entwicklung ist auch nicht im Interesse der Lehrbetriebe. Für sie ist die angedachte Reform auf den ersten Blick attraktiv. So sollen Handlungskompetenzen aufgebaut und die KV-Lehre zu einer Art „on-the-job- Ausbildung“ umgebaut werden. Der Lehrbetrieb soll der wichtigste Lernort sein, was attraktiv tönt, von den Lehrbetrieben aber mehr abverlangt. Ob Betriebe dies leisten können und wollen, wird sich zeigen. 
 
Längerfristig werden es die Unternehmen negativ spüren, wenn den jungen Berufsleuten die theo- retischen Grundlagen fehlen. 
 
Diese Grundlagen sind umso wichtiger, als es im Erwachsenenbildungsbereich heute schon eine Vielzahl von spezifischen Weiterbildungen, gibt, die man basierend auf einer breiten kaufmännischen Allgemeinbildung, erfolgreich absolvieren kann. Es darf bezweifelt werden, dass die Qualität dieser Weiterbil- dungen gehalten werden kann, wenn Kursteilnehmende mit nur noch rudimentärem Fundament zu solchen Weiterbildungen antreten. 
 
Wenn zukünftig die Lernenden nur noch lernen, was in „ihrem“ Betrieb gebraucht wird, werden sie noch stärker als bisher auf eine Branche oder gar auf ein Unternehmen festgelegt. Aufgrund eines sich beschleunigten Strukturwandels ist aber genau das Gegenteil nötig: Lernende sollten möglichst breit ausgebildet werden. Bisher war dies der Fall. Der Strukturwandel wurde gut gemeistert, die Schweizer Erwerbsquote ist hoch, die Arbeitslosigkeit tief. 
 
Notwendigkeit einer Reform ist gegeben 
 
Dass Verkaufsgespräche, Prozess- und Projektmanagement neu prominent im Lehrplan vertreten sind, ist nachvollziehbar. Es stellt sich aber die Frage, ob solche Themen nicht, wie bisher, in den überfachlichen Kursen bessern aufgehoben sind. Lehrbetriebe sind sehr unterschiedlich, weshalb eine branchenspezifische Ausbildung im Bereich Prozessmanagement oder Verkauf sinnvoller erscheint.
 
Ein gestraffter Lehrplan ist vertretbar, wenn dadurch Lernformen, wie selbstorganisiertes Lernen oder Projektunterricht, gefördert werden. Tatsächlich orientiert sich der aktuelle Lehrplan stark an Detail- wissen, welches viele Lernende nur ungenügend in die Praxis übertragen können. Jahrespromotionen könnten ebenfalls mehr Spielraum für Projekte und Praxis- bezüge bringen. 
 
Eine Verlängerung der Lehre um ein Jahr ist politisch wohl chancenlos, würde den höheren Ansprüchen an Kaufleute aber gerecht werden.
  
Solche „alternativen“ Unterrichtsmethoden können Kompetenzen, die für Kaufleute zukünftig zentral sein dürften, tatsächlich fördern. Solcher Unterricht muss sich aber ebenfalls an klaren Zielen und dem Aufbau von einem für die kaufmännische Tätigkeit notwendigen Grundstock an Fachwissen bzw. Fachkompetenzen orientieren. Würde man so reformieren, bräuchte man weiterhin hochqualifizierte Lehrpersonen und würde die Ausbildung tatsächlich fit für die Zukunft.
 
Stattdessen sind sogar die Lernziele zur Digitalisierung bescheiden und beschränken sich im Wesentlichen auf Anwendungen. App-Programmierung beispielsweise ist kein Lernziel. 
 
Weiterbildung und Nachbesserung notwendig
 
Aus gewerkschaftlicher Sicht ist positiv zu werten, dass die Lektionenzahl konstant bleiben soll. Die Lehrpersonen müssen aber definitiv weitergebildet werden. Davon ist momentan nichts zu sehen. Die Idee die Reform bereits im August 2022 einzuführen, scheint abenteuerlich und dürfte der Qualität ebenfalls abträglich sein.
 
Der vorliegende Bildungsplanentwurf muss dringend nachgebessert werden. Sonst wird die Lehre sowohl für Lehrpersonen, wie für Lernende abgewertet. Das Ziel „fit für die Zukunft“ wird aktuell verfehlt.
 
 
 
Update: Offenbar wurde kürzlich entschieden, dass Französisch die erste Fremdsprache sein solle.








Donnerstag, 10. September 2020

Keine Noten sind auch keine Lösung

Eine Podiumsdiskussion und eine mündliche Prüfung, so mussten die Studierenden ihre Führungs- und Kommunikationskompetenzen nachweisen.

Jawohl, ich habe Kompetenzen geprüft! Vor ein paar Jahren in Luzern im Rahmen der schulinternen Trainingsprüfung für die eidgenössische Fachausweisprüfung "Führungsfachleute" nahmen ein Kollege, eine Kollegin und ich, mit Hilfe eines Beurteilungsbogens die entsprechenden Prüfungen ab.

Prüfungen und Noten in der Kritik

In sozialen Medien haben Bewertungen im Allgemeinen, (wissensorientierte Einzel-)Prüfungen im Besonderen und vor allem Noten einen schlechten Ruf. Sie gelten als veraltet, nicht aussagekräftig und die Ursache für zögerliche Schulentwicklung.

Es wird die These vertreten, dass Prüfungen und Noten die Ursache für abnehmende Schul- bzw. Lernbegeisterung der Kinder im Laufe ihrer Schulzeit seien. Sogar der Lehrpersonenmangel wird teilweise so begründet. Es ist die Rede von einer "Prüfungskultur", welche durch eine "Vertrauenskultur" ersetzt werden soll. Gerne wir auch von einer "Kultur der Digitalität" geredet. Der Zusammenhang ist unklar.
 
Leider wird bei Kritiker*innen von Noten und Prüfungen nicht immer ganz klar, was sie genau ändern wollen. Sind es die Einzelarbeitsbewertungen, oder die Prüfungen, oder die Noten, oder die damit verbundene Selektion, oder alles zusammen?

Die Professoren Silvia-Iris Beutel und Hans Anand Pant bspw. nennen ihr kürzlich erschienenes Buch zwar "Lernen ohne Noten", werden aber nicht müde zu betonen, dass dies nicht eine Abkehr von Leistung sei. Sie geben eine Vielzahl von Tipps, wie man jenseits von Prüfungen und Noten bewerten kann. Warum sie die engen Bewertungsraster, die sie vorschlagen nicht auch noch in Punkte und schliesslich Noten umrechnen wollen, erstaunt. Empirie kann es nicht sein, denn Beutel/Pant geben einen Überblick über empirische Studien zur Wirksamkeit von Noten. Die Resultate sind ambivalent, was nicht wirklich überraschend ist.

Die radikale Position: Schule als Hobby

Die radikalen Stimmen, wollen nicht nur Noten und Prüfungen abschaffen, sie lehnen eigentlich alle Bewertungsformate ab. Sie wollen höchstens, dass in einem persönlichen Kompetenzportfolio oder in einem persönlichen Lernbericht Rückmeldung über individuelle Fortschritte, Stärken und (in homöopatischen Dosen) Schwächen und Rückschritte thematisiert werden. Selbstverständlich will diese "radikale Fraktion" daraus keinerlei Selektion ableiten. Die dreigliedrige Oberstufe wird durch eine Gemeinschaftsschule ersetzt. Am Ende steht "Matura für alle" oder noch besser "Doktorhut für alle".
Warum diese Vorstellung wahrscheinlich nicht sinnvoll ist, habe ich hier oder auch hier aufgezeigt.

Diese Fraktion erinnert an eine Sekte. Beunruhigend ist, dass sie nicht nur in sozialen Medien gut vernetzt ist, die "Sekten-Mitglieder" haben häufig Lehraufträge an pädagogischen Hochschulen und/oder lukrative Aufträge in der Bildungsberatung. Manchmal wollen sie auch nur Werbung für ihre Privatschule machen, was legitim ist, aber entsprechend gekennzeichnet sein sollte.

Die moderate Position: Bewertung ja, Noten nein

Die moderateren "Notenabschaffer*innen", wie beispielsweise Beutel/Pant wollen weiterhin Bewertung zulassen. Sie befürworten im Grundsatz auch, dass Schule Leistung einfordern soll. Sie glauben aber, dass Prüfungen und Noten diese Leistung nicht adäquat misst und somit Chancengleichheit reduziert wird. Diese Kritik verdient eine genauere Betrachtung. Das erwähnte Buch von Beutel/Pant ist durchaus zu empfehlen.

Vier Kritikpunkte hört man am häufigsten:

Einzelarbeitsbewertungen sind unzeitgemäss - heute arbeitet man im Team

Wenn Team heisst: "Toll ein anderer machts", dann ist die Kritik berechtigt. Ansonsten ist es so, dass auch in Projektteams jedes Mitglied seine Aufgabenbereiche hat, für welche er/sie zuständig ist. Wer immer auf den anderen hoffen muss, ist nicht zu gebrauchen. Wenn Einzelarbeitsbewertungen mit Verweis auf Teamarbeit als unzeitgemäss kritisiert werden, zeugt dies von wenig Sachverstand.

Ferner werden Gruppenprüfungen bzw. Gruppennoten in Schulen schon lange gemacht, führen aber regelmässig zu Streit, weil es in jeder Gruppe Trittbrettfahrer gibt. In der Wirtschaft könnte man diese Leute entlassen, in der Schule besteht diese Möglichkeit nicht.

Einzelbewertungen sind deshalb tendenziell fairer und sinnvoller. Gruppenbewertungen können eine Ergänzung sein.

Prüfungen prüfen nur Wissen und keine Kompetenzen und Haltungen

Abgesehen davon, dass die Fachkompetenz ein zentraler Bestandteil der Handlungskompetenz ist, und Wissen eine (allerdings nicht notwendige) Voraussetzung für weitere Kompetenzen ist (man kann Kommunikationskompetenzen haben ohne Wissen, dies ist dann der Blender - in sozialen Medien oft zu beobachten), könnten Prüfungen prinzipiell auch Kompetenzen testen.

Statt die zu erreichenden Punkte, könnte man bei jeder Aufgabe hinschreiben, welche Kompetenzen nachzuweisen sind. Dies brächte einen erheblichen Mehraufwand. Man müsste mit einem Bewertungsraster aufzeigen, ob eine Kompetenz oder allenfalls Haltung nachgewiesen ist. Nur so, kann sichergestellt werden, dass eine selektionierende Bewertung Rekurs sicher ist.

Ich selbst hatte, wie gesagt, solche Prüfungen abgenommen. Der Aufwand ist horrend. Es stellt sich die Frage, wer diesen Mehraufwand bezahlt, und ob das Resultat wirklich anders ist, als wenn herkömmlich Punkte verteilt werden, die schliesslich in Noten umgerechnet werden. Dies darf bezweifelt werden.

Da weiterhin einzelne Lehrpersonen die Prüfungen aufstellen, gäbe es kaum eine Angleichung der unterschiedlichen Ansprüche der einzelnen Lehrpersonen an ihre Lernenden. Dazu bräuchte es bei der Prüfungserstellung mehr Kooperation zwischen den Lehrpersonen - unabhängig, ob Punkte vergeben oder Kompetenzen nachgewiesen werden sollen. Bspw. an Berufsschulen werden zentrale Schlussprüfungen durchgeführt. Dies hat Vor- aber auch Nachteile. Die Sinnhaftigkeit von zentralen Prüfungen, geschrieben durch Drittpersonen ist ein Thema für sich.

Schliesslich sind solche umfassende Bewertungen nicht nur für die Prüfenden anspruchsvoll, sie sind wohl auch für die Geprüften eher belastender und stressiger als herkömmliche Prüfungen.

Es braucht andere Bewertungsformate als nur Prüfungen

Vorträge, Aufsätze, Berichte, Podiumsdiskussionen, Filme und andere Lernprodukte als Bewertungsformate gibt es bereits. Diese Formate sind typischerweise aber für alle Beteiligten sehr aufwändig und Zeit intensiv. Wiederum stellt sich die Frage, nach der Entschädigung (zumindest für die Lehrperson), nach der Rekurssicherheit, und ob die Resultate wirklich wesentlich anders sind als bei herkömmlichen Prüfungen. Dies darf wiederum bezweifelt werden. Wiederum gleichen sich die Ansprüche der einzelnen Lehrpersonen an die Lernenden nicht an. Dazu bräuchte es wiederum mehr Kooperation zwischen den Lehrpersonen. Wiederum stellt sich die Frage nach der Entschädigung für diesen Mehraufwand, der wahrscheinlich nicht wesentlich andere Ergebnisse liefert.

Da die Vorbereitung und Ausgestaltung von Lernprodukten oft zu Hause stattfindet, stellt sich ferner die Frage nach der Chancengleichheit. Dasselbe gilt für die Betreuung bzw. Begleitung eines Lernprodukts durch die Lehrperson oder moderner: Lernbegleiter*in. Es besteht die Gefahr, dass am Ende die Arbeit der Lehrperson oder die der Eltern, nicht aber die des Lernenden bewertet wird. Der Chancengleichheit ist dies nicht förderlich.

Lernberichte und Kompetenzportfolios sind aussagekräftiger als Noten

Das hängt von der Korrektur und der Qualität der - den Noten zugrunde liegenden - Bewertungsformate ab. Berichte und Portfolios bringen aber eine Erweiterung. Somit ist es tatsächlich sinnvoll, wenn in Ergänzung zu Noten ein (überfachliches) Kompetenzportfolio mit schulischen und ausserschulischen Aktivitäten, erworbenen Kompetenzen, Haltungen etc. erstellt wird. Kompetenzportfolios sind deshalb nicht eigentlich aussagekräftiger als Noten, weil es zwei völlig verschiedene Dinge sind.
Ein solche Portfolio könnte sogar bei einer Bewerbung um eine Stelle oder einen Studienplatz gezeigt werden und wäre wohl aussagekräftiger als ein herkömmlicher tabellarischer Lebenslauf oder ein Arbeitszeugnis.

Lernberichte sind vor allem im ersten und allenfalls im zweiten und dritten Zyklus sinnvoll und geben Kindern und Eltern eine gute Rückmeldung. Sie können auch motivierender abgefasst werden als Noten, weshalb sie vor allem im ersten Zyklus (Kindergarten, 1.-3. Klasse) Noten eindeutig vorzuziehen sind. In diesem Alter sind die Entwicklungsunterschiede der Kinder enorm. Vergleichende oder gar selektionierende Prüfungen sind da tatsächlich nicht sachgerecht. Das Erstellen solcher Lernberichte ist arbeitsintensiv. Wiederum stellt sich die Frage nach der Entschädigung dieser Mehrarbeit.

Für Selektion am Ende der sechsten Klasse (Ende zweiter Zyklus) oder bei Entscheidungen über weiterführenden Schulen/Ausbildungen am Ende des dritten Zyklus, eignen sie sich weniger. Einen Lernbericht so abzufassen, dass er Rekurs sicher ist, dürfte schwierig und aufwändig sein. Einige Kantone sind deshalb auch wieder zu Noten zurückgekehrt.

Allenfalls sind Lernberichte als Ergänzung sinnvoll. Wiederum stellt sich einerseits die Frage nach der Entschädigung dieser Mehrarbeit, und anderseits, ob die Resultate wirklich so anders wären. Dies darf bezweifelt werden, da Noten ja das Ergebnis einer Vielzahl von Prüfungen und anderer Leistungsnachweise sind.
Sogar eine Angleichung der Ansprüche der einzelnen Lehrpersonen an die Lernenden, ist wiederum nicht zu erwarten. Es ist aufgrund der Subjektivität sogar eine grössere Unterschiedlichkeit zu befürchten, was wiederum Rekurs anfällig ist.

Noten können motivieren und leider auch demotivieren

Irgendwann im Laufe des zweiten Zyklus hören die meisten Kinder auf zu lernen, weil sie der Lehrperson gefallen wollen. Sie Lernen dann entweder aus Interesse an der Sache oder für eine gute Note. Dass Menschen auf extrinsische Anreize reagieren ist völlig normal. Warum dies im schulischen Umfeld kritisiert wird, ist irritierend.

Schwächere Kinder beginnen meist in dieser Phase mit Schulverdrossenheit, weil sie sich ausser Stande sehen, gute Noten zu erreichen. Dieses Problem ist real und das qualifizierteste Argument gegen Noten in der Schule. Hier können individuelle Lernberichte helfen, die Motivation zu erhalten.

Auch die dreigliedrige Oberstufe kann dazu führen, dass Jugendliche, die immer Mühe hatten, plötzlich zu den Besten gehören.

Übrigens: Selbst in einem völlig Noten freien, individualisierten Unterricht würden diese Kinder merken, dass sie schwächer als ihre Kolleg*innen sind. Selektion verschwindet (leider) nicht, wenn man so tut als wäre sie nicht mehr da. (In einem Sportteam gibt es keine Prüfungen und Noten für die Spieler. Trotzdem weiss schon nach wenigen Trainings jeder im Team, wer stärker und wer schwächer ist).

Meines Erachtens am schlechtesten wäre es, wenn die "stärkeren" Oberstufenzüge (Bez./Sek A etc.) Noten hätten, die "schwächeren" Züge (Real, Sek B etc.) dagegen nicht. Das Signal an die "schwächeren" Züge wäre verheerenden. Sie würden zu "Restschulen" degradiert, "in denen es nicht mal mehr Noten gibt".

Durchlässigkeit erhöhen

Stattdessen sollte die Politik Mittel zur Verfügung stellen, dass die "schwächeren" Züge ebenfalls attraktive Schulen sind, bspw. durch ein generell durchlässiges System. In vielen handwerklich-technischen Berufen ist Mathematik wichtig. Hier wäre bspw. denkbar, dass Sek. B-Lernende die Mathematik in der Sek. A besuchen können. Solche Modell gibt es bspw. im Kanton Bern bereits. Weiter müssen das duale System und die berufliche Weiterbildung gefördert werden, weil diese auch schwächeren Lernenden gute berufliche Perspektiven eröffnen.

Auf der Sek II/Tertiär Stufe sind Lernberichte im Normalfall unnötig. In diesem Alter haben die Jugendlichen/Erwachsenen ihre Interessen weitgehend entwickelt. Noten bilden einen extrinsischen Anreiz, der nicht selten als eine Art Lohn für die eigene Leitung betrachtet wird. Das kann man bedauern, wirklich ein Problem ist es nicht.

Fazit

Wenn Schule weiterhin selektionierend sein soll, gibt es wenig Gründe, auf höherer Stufe Noten durch Lernberichte oder Kompetenzportfolios zu ersetzen. Die Resultate wären wohl weitgehend dieselben, aber viel aufwändiger.
Lernberichte bei den Jüngeren und Kompetenzportfolios bei den Älteren können aber eine sinnvolle Ergänzung sein. Der Mehraufwand ist zu entschädigen.
Weiter ist zu beachten, wie Noten zustande kommen. Schriftliche Prüfungen - abhängig vom Fach - sind weiterhin wichtig, sie sollten aber einerseits qualitativ stark sein und anderseits sollten Noten - wiederum abhängig vom Fach - durch weitere Leistungsnachweise ergänzt werden. Hier, mehr zu "zeitgemässem Lernen".

Völlig abzulehnen ist eine angeblich "zeitgemässe Bildung", die Noten, Prüfungen und alle anderen Bewertungen, abschaffen und durch thematische Beliebigkeit und Unverbindlichkeit ersetzen will.

Beutel/Pant, "Lernen ohne Noten", Kohlhammer Verlag 2019.