Dienstag, 21. Januar 2020

Chancen und Gefahren der Digitalisierung für "zeitgemässe Bildung"

"Zeitgemässe Bildung" ist eine Bildung, welche die Menschen befähigt, sich in einer komplexen Welt zu orientieren, sich einzubringen und mitzudenken. Dies bedingt Orientierungswissen, Handlungskompetenzen und Chancengleichheit.

Digitalisierung ist bei "zeitgemässer Bildung" nur ein Teil. Sie steht aber in vielen Diskussionen im Fokus.

Digitalisierung als Deckmantel

Digitalisierung für "zeitgemässe Bildung" kämpft gegen diverse Widerstände. Neben den bekannten rechtlichen und finanziellen Problemen, sowie den Bewahrern in den Lehrerkollegien und Schulleitungen, bedroht eine weitere Gruppe einen sinnvollen Einsatz digitaler Medien im Bildungswesen: Die Leistungsschulabschaffer*innen und Beliebigkeitsapologet*innen.

Unter dem Deckmantel der Digitalisierung wollen sie das leistungsorientierte Bildungswesen durch Beliebigkeit ersetzen. Framing beherrschen sie gut, sie reden gerne von "zeitgemässer Bildung", "freiem Lernen", "persönlicher Bildung" und "Kulturwandel" (wer ist da schon dagegen?), meinen aber nur Beliebigkeit und Bewertungsabschaffung. Sie sind in den sozialen Medien gut vernetzt und - was wesentlich beunruhigender ist - sie besetzen einflussreiche Positionen an pädagogischen Hochschulen, arbeiten als Didaktikdozenten*innen, oder haben lukrative Beratungsmandate im Bildungswesen.

Es handelt sich um Leute, welche alles ablehnen, was irgendwie nach Leistung, Lehrplan und Bewertung aussieht. Ihre Meinungen vertreten sie mit sektiererischem Eifer. Die extremsten Wirrköpfe sehen in leistungsorientierten Schulen die Ursache für Mobbing oder Neoliberalismus. Sie glauben, dass Wissen, Lernen verhindere. Sogar der Klimawandel soll die Schuld der Schule sein.

Da soziale Medien "Vielposter" belohnen und Blender, Sektierer und andere Ahnungslose sich gegenseitig liken, faven und teilen, erreichen sie grosse Reichweiten, was wiederum ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Für Laien und oberflächliche Leser*innen entsteht der Eindruck von Sachverstand.

Die vier Typen von Leistungs- und Bewertungsgegner

Was treibt diese Leute an? Es gibt vier Typen:

1. Die Naiven: Sie glauben wirklich, dass die Abschaffung von Leistung und Bewertung die Chancengleichheit erhöht. Tatsächlich gibt es diverse Studien, die zeigen, dass Bewertung Nachteile hat. Diese deshalb aber abschaffen, verstärkt das Problem. Die Wirtschaft würde solche Bewertungen nachholen (Assessments) und die Unis würden Aufnahmeprüfungen einführen. Mehr dazu hier.

2. Die Frustrierten : Sie haben genug von den ewigen Diskussionen und Streitereien mit "Kampfeltern" und deren Anwälte. Sie glauben, ihre Lebensqualität würde ohne Leistungs- und Bewertungsdruck steigen.
Diese Haltung ist verständlich. Schulleitungen, Schulkommissionen und Erziehungsdirektionen wären gefordert, den Lehrkräften den Rücken zu stärken, was zu oft nur ungenügend passiert.

3. Die "Kommunist*innen" (in sozialen Medien besonders aktiv): Ihnen ist klar, dass ein auf Leistung und Konkurrenz basierendes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Bewertung, Leistung und Selektion in der Schule braucht. Aber sie lehnen das System ab (den eigenen Hochschuledozenten- oder Gymnasiallehrerlohn nehmen sie natürlich gerne) . Sie glauben, ohne Konkurrenz und Leistung in der Schule, werde ein neuer Mensch entstehen, welcher den Kapitalismus überwinden wird. Kommentar überflüssig.

Dazu gesellt sich eine vierte Gruppe: Die Eltern. Sie hören all die Horrorszenarien bezüglich wirtschaftlicher Zukunft und wollen deshalb für ihr Kind nur das Beste: einen Hochschulabschluss. Könnte nun der Sprössling, dieses Ziel nicht erreichen, bricht Panik aus. Viel einfacher wäre es da (scheinbar), wenn Leistung und Selektion durch beliebige Projekte und Kompetenzen ersetzt würden. (Aber Achtung: Was unter "1. Die Naiven" gesagt wurde, gilt natürlich immer noch).

Die Chancen, der Digitalisierung

Digitale Transformation heisst sinnvollerweise, dass man Wissensaufbau mit digitalen Hilfsmittel unterstützt und zusätzlich gleich weitere Kompetenzen fördert. Diese Medien bieten eine Reihe von Chancen. Einerseits für aktuellen, interaktiven und kollaborativen Wissensaufbau, und anderseits für Lernarten wie PBL und SOL, womit neben fundiertem Orientierungswissen als Grundlage, weitere Kompetenzen (21st Century Skills) geschult und gefördert werden können.
Ferner kann SOL auch eine Möglichkeit bei unkonzentrierten Klassen bzw. Disziplinarproblemen bei Frontalunterricht sein. Mehr dazu hier.

Wichtig ist, dass diese Projekte nicht beliebiger Selbstzweck sind, sondern klare Lern- und Leistungsziele haben. Auch Bewertungen gehören dazu.

Beliebigkeit zerstört Chancengleichheit 

Völlig abwegig ist die Vorstellung, Digitalisierung verlange totale Beliebigkeit, d.h. keine Leistungsziele, keine Lehrpläne, keine Bewertungen.

Der Glaube, Digitalisierung mache Leistung und Orientierungswissen obsolet, zeugt von wenig Sachverstand (eigentlich beweisen solche Vorstellungen die Notwendigkeit von Schulen).

Beliebigkeit  zerstört das Bildungswesen. Zahlungskräftige und bildungsnahe Eltern könnten auf Privatschulen und Homeschooling ausweichen. Chancengleichheit geht den Bach runter.

Frontalunterricht, SOL und Lehrpersonenzentrierung

Oft hört man SOL funktioniert nur bei leistungsstarken Lernenden. Die entspricht nicht meiner Erfahrung. SOL kann Disziplinprobleme reduzieren.

Frontalunterricht ist effizient aber anstrengend

Wenn das Ziel des Unterricht Aufbau von Orientierungswissen ist, ist Frontalunterricht eine effiziente Methode, sofern die Lernenden konzentriert zuhören und bspw. Notizen machen und Nachfragen stellen. Aussredem zeigt sich immer wieder, dass die Lernenden Frontalunterricht gerne mögen.
Weitere Kompetenzen, wie Kollaboration oder Kreativität können allerdings nicht gefördert werden. Bei berufsbegleitenden Kursen etwa in der Erwachsenen ist das auch nicht nötig, da die Kursteilnehmenden gezielt eine Lücke in ihrem Kompezenzportfolio schliessen wollen. Mehr dazu hier.
Wenn die Lernenden eher unkonzentriert sind, funktioniert Frontalunterricht schlecht. Im besseren Fall träumen die Lernenden vor sich hin, im schlechteren stören sie den Unterricht. Lernen findet nicht wirklich statt, Details verstehen sie nicht.

SOL als sinnvoller Kompromiss gegen Disziplinprobleme

In solchen Fällen können kleine SOL Projekte sinnvoll sein. Mit klaren Aufgaben und Zielen übernehmen die Lernenden die Verantwortung für ihr Lernen. Da diese Form aber mehr Zeit braucht und die Details oft weniger verstanden werden, wie wenn konzentrierte Lernende frontal beschult werden, ist diese Methode ineffizienter und somit eigentlich ein Kompromiss. In beiden Fällen steuert aber die Lehrperson, weshalb man beide Arten als lehrpersonenzentriert bezeichnen kann.

SOL kann natürlich auch ganz bewusst zum Wissenserwerb in Kombination mit weiteren Kompetenzen verwerndet werden. Mehr dazu hier.